Barcarolle in Yellow
für Interpreter (Glulx)

Barcarolle.jpg
Mr Creosote:
Firma: Victor Ojuel
Jahr: 2023
Genre: Adventure
Thema: Krimi / Textbasiert
Sprache: English
Lizenz: Freeware
Aufrufe: 375
Rezension von Mr Creosote (20.07.2024)
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Außerhalb Italiens bezeichnet unter Nerds der Begriff Giallo (gelb) eine spezifisch italienische Art des Krimis, Thrillers oder Horrorfilms. Der Genrename rührte von den gelben Einbänden, in denen ausländische Thriller (von Agatha Christie bis eben Edgar Wallace) seit den 30er Jahren in Italien in geschriebener Form veröffentlicht wurden. In der Filmwelt hatte sich dort ab den 60er Jahren nach Vorbildern wie den deutschen Edgar-Wallace-Krimis und gewissen Hitchcock-Filmen ein Stil entwickelt, die stark von visueller Stilisierung, begleitet von bombastischer Musik lebte. Inhaltlich drehte es sich meist um vulgärfreudianische Themen, doch explizite Handlungslogik konnte man maximal als sekundär bezeichnen. Doch, so Fans, darunter befand sich sehr wohl ein Regelwerk, das nur eben Emotionen und subjektivem stream of consciousness folgte. Gegen 2010 begann eine internationale Wiederentdeckung dieses eigentlich seit Anfang der 80er Jahre ausgelaufenen Trends.

Barcarolle in Yellow geht den heutzutage einzig verbliebenen Weg, sich noch in diesem stark verkitschten Genre zu bewegen: Es geht praktisch komplett auf die Metaebene. Gleich der Anfang ist ein Schlag in die Magengrube:

Zitat:
“I love your work.”
“You mean, you love to watch me die.”

Die anschließende Anfangsszene ist beinahe ebenso stark: Scheinbar befindet man sich in der Rolle einer Prostituierten im sogenannten „Wilden Westen“. Doch wenige Schritte später stellt sich dies als Filmset heraus. Man verkörpert eine junge Schauspielerin, die auf ihren großen Durchbruch mit der Produktion eines Thrillers im Venedig der 70er Jahre hofft. Und permanent bleibt die Erzählung mit voller Absicht im ungefähren, insbesondere bezüglich der Frage, was eigentlich Skript und was Wirklichkeit ist.

Bereits bei der Ankunft am Bahnhof wird man von einem irren Killer verfolgt. Dabei sollte der Dreh doch noch gar nicht angefangen haben. Im Hotel möchte man gerne Dreck und Schweiß von der Reise abwaschen und das Verweilen in der Badewanne wird mit arg männlichem Blick beschrieben – als wäre dies eine entsprechend voyeuristische Filmszene. Da es einen Killer gibt, ist die Gefahr zu sterben allgegenwärtig. Doch so mancher Endbildschirm enthält bei genauerer Betrachtung neben „neu beginnen“, „laden“ oder „beenden“ die ansonsten unbekannte Option, die „Szene zu beenden“. Was dann wiederum zur (endgültig surrealen) Fortsetzung des Spiels führt.

Gerade letzteres ist ein ziemlicher Coup auf erzähltechnischer Metaebene. Gleichzeitig beweist Autor Ojuel hiermit einen großen Mut zur Inszenierung, ja Stilisierung seines eigenen Werks. Was, wenn Spieler nicht genau hinschauen, dies übersehen? Tja, ein Risiko, aber andererseits: Für diejenigen, die es entdecken, ist der Effekt desto stärker!

Doch dies betrifft das Ende, oder zumindest ein scheinbares Ende. Auf dem Weg dorthin verlässt Ojuel der Mut mehrfach. Weniger effektiv sind diejenigen Szenen, in denen die Protagonistin direkt und sehr explizit kommentiert. „Wäre dies ein Film, würde die Kamera lange auf meinen Beinen verweilen.“ Ja, korrekt. Nur nimmt diese Art des Kommentars auf den allgegenwärtigen Sexismus im Giallo ihm jeglichen Biss, denn die Ablehnung solcher Vergegenständlichung ist heutzutage gesellschaftlicher Konsens. Dies explizit auszusprechen, hat nichts Subversives, bietet kein verstörendes Element für den Rezipienten.

Dazu kommt, was einem das Spiel auf dem Weg in Richtung Ende beibringt. Leider geht echte Interaktivität immer wieder verloren. Das Spiel folgt einem strikt definierten imaginären Skript aus dem Kopf seines Autoren. Als nächstes haben die Spieler jeweils genau eine Sache zu tun, auf genau eine Weise. Erstere wird einem sehr direkt kommuniziert. Manchmal in Form eines Skripts innerhalb des Spiels (wie gesagt, meta…). Manchmal durch mehr oder weniger logische Hinweise des Erzählers. Soweit, so gut. Der Mangel an Wirkmächtigkeit der typischen Rolle, die man im Spiel verkörpert, sowie auch (angenommen) ihrer Darstellerinnen zu der Zeit wird damit sehr pointiert reflektiert.

Doch gerade bezüglich des wie, also der konkreten Umsetzung der Anweisungen, ist das Spiel unglaublich pingelig, lässt die Spielerschaft aber damit allein. Exakteste, manchmal nicht einmal naheliegende Formulierungen werden wie selbstverständlich erwartet. Alternativen, die effektiv das gleiche aussagen, nicht akzeptiert. Und Abweichungen vom vorgesehenen Ziel ebensowenig. Was nicht nur das Fortkommen unnötig erschwert, sondern eben auch die stärkste Möglichkeit der Erkenntnis durch selbstständiges Entdecken ausschließt.

Diese signifikanten Implementierungsschwächen sind unverzeihlich. Jenseits dieser offensichtlichen Ebene der Kritik stellt sich die Frage, ob Spaß ein notwendiges Kriterium für die positive Rezeption eines Spiels ist. Die scheinbare Protagonistin zu einem Spielball zu machen, die die Handlung nicht bestimmt, gestaltet die Spielerfahrung auf jeden Fall schwierig.

Doch, die Spielzeit ist kurz; selbst der erste Durchlauf sollte nicht länger als eine Stunde dauern. Danach sind sicher weitere Anläufe notwendig, den Sinn hinter der Sache zu erschließen. Doch auch das gestaltet sich dann nicht ausladend.

Vor diesem Hintergrund kann ich persönlich die Frage nur mit einem lauten Nein beantworten. Solcherlei Metakunstwerke müssen erlaubt sein. Das Erleben mag holprig sein, doch die Rückbetrachtung ergibt den Wert.

Ist Barcarolle in Yellow somit das vielzitierte letzte Wort im Bezug auf den Giallo? Weit entfernt. Es erhebt keinerlei Anspruch auf vollumfängliche Kommentierung, sondern pickt sich Spezifika heraus, die es behandeln will. Und das gelingt mal mehr, mal weniger. Wahrscheinlich fehlte hier und da einfach das erzählerische Geschick, Dinge implizit herüberzubringen. An anderen Stellen gelingen aber auch unerwartet starke Momente. Wenn man beispielweise, trotz vorgeblicher Protagonistinnenrolle, herumkommandiert, angeschrien wird. Wenn man in seinen Beobachtungen, seinen Ängsten nicht ernst genommen wird. Wenn verschwörerische Kräfte auf beabsichtigt undurchschaubare Weise, die eben nicht abschließend erklärt wird, am Werk sind. Eine gelecktere Spielerfahrung hätte Einiges davon ausgeschlossen.

So ist es ein wertvoller Beitrag zum Diskurs darüber, was Giallo war, wie wir Medien im Allgemeinen rezipieren sowie gesellschaftlicher Rollenbilder, die hinter all dem stehen. Gleichzeitig bewegt es sich auf der selbstreflektorischen Ebene über interaktive Erzählung und ihre Spezifika. Damit ist es immerhin zwei Ebenen über üblichen Computerspielen anzusiedeln. Trotz aller Schwächen.

Kommentare (1) [Kommentar schreiben]

Mr Creosote:
Nur mal eine kleine Erinnerung, dass wie jedes Jahr im Oktober eine Interactive-Fiction-Competition stattfinden wird. Es ist also an der Zeit, seine Interpreter zu installieren oder zu aktualisieren. Vorbereitung ist alles, denn sobald die Spiele draußen sind, hat man niemals genug Zeit, alle zu spielen, bis der Abstimmungszeitraum endet! Bis dahin, um wieder auf den Geschmack zu kommen, eines der letztjährigen Spiele: Barcarolle in Yellow.
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