Bericht von Mr Creosote (22.07.2023) – PC (Windows)
Wer hier schon eine Weile mitliest, den wird nicht überraschen, dass ich als Teenager ein ziemlicher Kriegs-Brettspiel-Nerd war. Unzählige Nachmittage, Abende und Wochenenden verbrachte ich damit, über abstrakten Landkarten zu brüten. Einige stellten detailliert ausgefuchst taktische Schlachtfelder dar. Andere repräsentierten die gesamte Welt, oder große Teile davon. Die Notwendigkeit, viele verschiedene Regelwerke, noch mehr Spezialitäten im Kopf auseinanderzuhalten, machte mir nichts. Es machte einfach Riesenspaß, all diese verschiedenen Welten zu erproben, immer wissend, welch große Rolle dann letztlich doch die Echtweltpsychologie zwischen den Teilnehmern spielte. Selbst wenn wir dann doch nur selten etwas wirklich bis zu Ende spielten. Irgendwann war es abzusehen, wer gewinnen würde, und das war dann der richtige Zeitpunkt aufzuhören.
Eines der strategisch eher leichtgewichtigen Spiele dieser Zeit war Supremacy . Gegenüber Risiko war es gerade genug aufgewertet, um von den eingebildeten Profis noch ernstgenommen zu werden, aber trotzdem zugänglich zu bleiben, dass man immer Mitspieler finden konnte. Die physisch riesige Weltkarte machte das Spielen zu Unizeiten in beengten Wohnverhältnissen leider unmöglich. Seitdem war ich auf der semi-aktiven Suche nach einer Computerversion des Spiels. Die ich schließlich (mehr oder weniger) in Proliferation fand. Dieses Sharewarespiel – später als Freeware veröffentlicht – hatte keine offizielle Lizenz und ist auch keine 1:1-Umsetzung, aber eine starke Inspiration des Brettspiels kann man wohl kaum verneinen. Nur dass der Atomkrieg noch etwas stärker in den Vordergrund tritt.
Die 1980er Jahre, also das Jahrzehnt, in dem Supremacy entstand, waren ein Jahrzehnt nuklearer Angst. Glasnost und Perestroika zerstreuten diese Ängste und schließlich gingen sie im westlichen Jubel über den Fall der Sowjetunion unter. Dabei wurde vergessen, dass es sich weniger um das Ende eines Zeitalters, als vielmehr den Anfang einer grundlegend veränderten nuklearen Gefahrenlage handelte. Urplötzlich war eine nicht zu verachtende Anzahl sich gerade für unabhängig erklärter, kleinerer Staaten in einigermaßen instabilen politischen Verhältnissen zu Atommächten geworden. Was den Atomwaffensperrvertrag von 1968 praktisch gegenstandslos machte.
In der Welt von Proliferation sind Atomwaffen praktisch überall. Jeder Spieler beginnt mit einem einzigen Territorium irgendwo auf der an Risiko angelehnten Karte und schon bald ist der kurzzeitig neutrale Kuchen der restlichen Welt aufgeteilt. So dass sich die dann Großen gegeneinander wenden, um schließlich allein zu herrschen. Wahrscheinlich allerdings über ein dann verstrahltes Ödland.
Die Basis dieses militärischen Kräftemessens stellt ein einfaches Wirtschaftssystem dar. Nahrungs- und Ölproduktion pro Territorium werden direkt in die globalen nationalen Speicher geliefert. Ein Nahrungsüberschuss führt zu Bevölkerungswachstum (sofern auch andere Bedingungen erfüllt sind). Öl ist wiederum notwendig für militärische Operationen. Beide Waren können auf dem Weltmarkt gehandelt werden, um kurzfristigen Mangel auszugleichen oder Geld zwecks anderweitiger Investitionen einzunehmen. Schön hierbei, dass Proliferation Balance-Faktoren berücksichtigt. Ein kontrolliertes Wachstum ist vielversprechender, als sofort der Größte werden zu wollen.
Die Investitionen gehen größtenteils ins Militär, das sich in offensive und defensive Ressourcen teilt. Letztere sind allerdings teurer als erstere, so dass das Spiel forsches Vorgehen belohnt. Doch wiederum nicht im Sinne eindimensionalen Risiko-Vorgehens der Marke, schnell mal die größtdenkbare Armee zu schicken.
Denn: eine sogenannte konventionelle Armee reicht nicht, den Krieg zu gewinnen. Ohne Atomwaffen geht es nicht. Davon gibt es zwei Arten. Langstreckenraketen müssen erstmal über einen ganzen Zug in Bereitschaft versetzt werden, machen dann aber riesigen Schaden und erhöhen die globale Strahlungsstufe direkt signifikant. Taktische Atomwaffen töten dagegen primär gegnerische Soldaten. Ihre geringere Strahlung bleibt zuerst lokal. Wobei ein Teil dann am Ende des Zuges doch in die Atmosphäre steigt. Wodurch sich der Kreis dann schließt: Strahlung tötet. Sie wirkt also dem gerade so genau geplanten Bevölkerungswachstum durch Nahrungsüberschuss entgegen.
Im Gesamtsystem greifen weitere kleine Zahnräder ineinander. Die Designer haben alles gut ausbalanciert, so dass strategische wie taktische Entscheidungen niemals offensichtlich oder einfach sind. Kompromisse sind immer notwendig. Deshalb hat Proliferation niemals meine Festplatte verlassen. Selbst wenn ich meist nicht mehr zu Ende spiele. Irgendwann ist es schließlich vorhersehbar, ob man gewinnen oder verlieren wird. Dann wäre es nur noch Fleißarbeit. Also höre ich auf, genau wie früher. Nur dass ich es heutzutage einfach im Hintergrund weiterlaufen lasse, um weiterhin der hervorragenden Musik zu lauschen. Nur drei Melodien sind es, eine davon eine wunderschöne MIDI-Version von Jean-Michel Jarres Equinoxe 4, aber diese drei passen einfach perfekt ins Szenario. Das Zischen startender Raketen wird Teil der Melodie und verkündet unabwindbares Verderben. Selbst, wenn man „siegt“.