Proliferation

Firma:
Silicon Commander
Jahr:
1995
System:
PC (Windows)
Genre:
Strategie
Tags:
Apokalypse / Brettspiel / Multiplayer / Krieg
Sprache:
Englisch
Mittlere Wertung:
5/5

Bericht von Mr Creosote (22.07.2023) – PC (Windows)

Wer hier schon eine Weile mitliest, den wird nicht überraschen, dass ich als Teenager ein ziemlicher Kriegs-Brettspiel-Nerd war. Unzählige Nachmittage, Abende und Wochenenden verbrachte ich damit, über abstrakten Landkarten zu brüten. Einige stellten detailliert ausgefuchst taktische Schlachtfelder dar. Andere repräsentierten die gesamte Welt, oder große Teile davon. Die Notwendigkeit, viele verschiedene Regelwerke, noch mehr Spezialitäten im Kopf auseinanderzuhalten, machte mir nichts. Es machte einfach Riesenspaß, all diese verschiedenen Welten zu erproben, immer wissend, welch große Rolle dann letztlich doch die Echtweltpsychologie zwischen den Teilnehmern spielte. Selbst wenn wir dann doch nur selten etwas wirklich bis zu Ende spielten. Irgendwann war es abzusehen, wer gewinnen würde, und das war dann der richtige Zeitpunkt aufzuhören.

Eines der strategisch eher leichtgewichtigen Spiele dieser Zeit war Supremacy . Gegenüber Risiko war es gerade genug aufgewertet, um von den eingebildeten Profis noch ernstgenommen zu werden, aber trotzdem zugänglich zu bleiben, dass man immer Mitspieler finden konnte. Die physisch riesige Weltkarte machte das Spielen zu Unizeiten in beengten Wohnverhältnissen leider unmöglich. Seitdem war ich auf der semi-aktiven Suche nach einer Computerversion des Spiels. Die ich schließlich (mehr oder weniger) in Proliferation fand. Dieses Sharewarespiel – später als Freeware veröffentlicht – hatte keine offizielle Lizenz und ist auch keine 1:1-Umsetzung, aber eine starke Inspiration des Brettspiels kann man wohl kaum verneinen. Nur dass der Atomkrieg noch etwas stärker in den Vordergrund tritt.

Die 1980er Jahre, also das Jahrzehnt, in dem Supremacy entstand, waren ein Jahrzehnt nuklearer Angst. Glasnost und Perestroika zerstreuten diese Ängste und schließlich gingen sie im westlichen Jubel über den Fall der Sowjetunion unter. Dabei wurde vergessen, dass es sich weniger um das Ende eines Zeitalters, als vielmehr den Anfang einer grundlegend veränderten nuklearen Gefahrenlage handelte. Urplötzlich war eine nicht zu verachtende Anzahl sich gerade für unabhängig erklärter, kleinerer Staaten in einigermaßen instabilen politischen Verhältnissen zu Atommächten geworden. Was den Atomwaffensperrvertrag von 1968  praktisch gegenstandslos machte.

In der Welt von Proliferation sind Atomwaffen praktisch überall. Jeder Spieler beginnt mit einem einzigen Territorium irgendwo auf der an Risiko angelehnten Karte und schon bald ist der kurzzeitig neutrale Kuchen der restlichen Welt aufgeteilt. So dass sich die dann Großen gegeneinander wenden, um schließlich allein zu herrschen. Wahrscheinlich allerdings über ein dann verstrahltes Ödland.

Die Basis dieses militärischen Kräftemessens stellt ein einfaches Wirtschaftssystem dar. Nahrungs- und Ölproduktion pro Territorium werden direkt in die globalen nationalen Speicher geliefert. Ein Nahrungsüberschuss führt zu Bevölkerungswachstum (sofern auch andere Bedingungen erfüllt sind). Öl ist wiederum notwendig für militärische Operationen. Beide Waren können auf dem Weltmarkt gehandelt werden, um kurzfristigen Mangel auszugleichen oder Geld zwecks anderweitiger Investitionen einzunehmen. Schön hierbei, dass Proliferation Balance-Faktoren berücksichtigt. Ein kontrolliertes Wachstum ist vielversprechender, als sofort der Größte werden zu wollen.

Die Investitionen gehen größtenteils ins Militär, das sich in offensive und defensive Ressourcen teilt. Letztere sind allerdings teurer als erstere, so dass das Spiel forsches Vorgehen belohnt. Doch wiederum nicht im Sinne eindimensionalen Risiko-Vorgehens der Marke, schnell mal die größtdenkbare Armee zu schicken.

Denn: eine sogenannte konventionelle Armee reicht nicht, den Krieg zu gewinnen. Ohne Atomwaffen geht es nicht. Davon gibt es zwei Arten. Langstreckenraketen müssen erstmal über einen ganzen Zug in Bereitschaft versetzt werden, machen dann aber riesigen Schaden und erhöhen die globale Strahlungsstufe direkt signifikant. Taktische Atomwaffen töten dagegen primär gegnerische Soldaten. Ihre geringere Strahlung bleibt zuerst lokal. Wobei ein Teil dann am Ende des Zuges doch in die Atmosphäre steigt. Wodurch sich der Kreis dann schließt: Strahlung tötet. Sie wirkt also dem gerade so genau geplanten Bevölkerungswachstum durch Nahrungsüberschuss entgegen.

Im Gesamtsystem greifen weitere kleine Zahnräder ineinander. Die Designer haben alles gut ausbalanciert, so dass strategische wie taktische Entscheidungen niemals offensichtlich oder einfach sind. Kompromisse sind immer notwendig. Deshalb hat Proliferation niemals meine Festplatte verlassen. Selbst wenn ich meist nicht mehr zu Ende spiele. Irgendwann ist es schließlich vorhersehbar, ob man gewinnen oder verlieren wird. Dann wäre es nur noch Fleißarbeit. Also höre ich auf, genau wie früher. Nur dass ich es heutzutage einfach im Hintergrund weiterlaufen lasse, um weiterhin der hervorragenden Musik zu lauschen. Nur drei Melodien sind es, eine davon eine wunderschöne MIDI-Version von Jean-Michel Jarres Equinoxe 4, aber diese drei passen einfach perfekt ins Szenario. Das Zischen startender Raketen wird Teil der Melodie und verkündet unabwindbares Verderben. Selbst, wenn man „siegt“.

Archivierte Berichte

Bericht von Mr Creosote (31.05.2001) – PC (Windows)

Der „Vertrag zur Nicht-Verbreitung von Nuklearwaffen“ wurde 1968 unterzeichnet. Dies war ein Versuch, all die kleinen Staaten daran zu hindern, Zugang zu Nuklearwaffen zu bekommen. Nur die fünf „offiziellen Weltmächte“ hatten die Erlaubnis, Atomwaffen zu besitzen: die USA, Großbritannien, Frankreich, die UdSSR und China. Dieser Vertrag sicherte also diesen Staaten das Atomwaffenmonopol.

Aber, wie viele Verträge der Vereinten Nationen, reräsentiert auch dieser die Weltsituation nach dem Zweiten Weltkrieg. Schon als er unterzeichnet wurde, war er nicht mehr fair gegenüber den neuentwickelten Mächten. Dementsprechend bauten immer mehr Staaten „illegal“ ihr eigenes Nuklear-Arsenal auf – manche mit dem Segen einer „Weltmacht“ (z.B. Israel), andere ohne (z.B. Pakistan).

1991 fiel die UdSSR auseinander. Plötzlich gab es eine Menge neu gegründeter Staaten, die im Besitz von Atomwaffen waren! Der Vertrag wurde dadurch mehr oder weniger vollkommen gegenstandslos…

Soviel zu den historischen Fakten. An dieser Stelle setzt der fiktive Hintergrund von Proliferation ein: Da sie in dringender Geldnot sind, verkaufen einige Staaten der ehemaligen Sowietunion an reiche Staaten der dritten Welt. Die „offiziellen“ Mächte geraten in Panik und versuchen, diese zu besetzen. Aber sie finden starke Verteidiger vor! Die neuen Mächte benutzen taktische Atomwaffen, ihre Gegner antworten mit Interkontinentalraketen. Danach zerfallen alle bisherigen Bündnisse, alle versuchen nur noch, eine möglichst gute Ausgangslage für den bevorstehenden Weltkrieg zu erringen…

Und hier beginnt das Spiel. Jeder Spieler startet mit einer einstellbaren Anzahl an Regionen unter seiner Kontrolle. Auf den ersten Blick erinnert die Karte an Risiko. Und das Grundkonzept ist natürlich auch das selbe: Armeen ausschicken, um angrenzende Regionen zu erobern. Aber eigentlich steckt in Proliferation eine Menge mehr drin.

Erstmal gibt es die normalen Armeen. Aber diese existieren ja schon seit Jahrtausenden. Zur heutigen Zeit werden die Schlachtfelder von Atomwaffen beherrscht. Diese Waffengattung ist nochmals unterteilt in taktische Nuklearwaffen (für eine Art „Allerweltgebrauch“) und Interkontinentalraketen (ICBMs). Taktische Raketen können normale Armeen töten. Aber der Verteidiger kann sie auch mit stationären Abwehrraketen abschießen, bevor sie irgendwelchen Schaden anrichten können. ICBMs brauchen einen ganzen Zug, um zum Abschuss bereit gemacht zu werden (und ihre Bereitschaft kostet auch Geld). Auch sie können vor dem Auftreffen unschädlich gemacht werden: durch Defensivsatelliten. Aber in beiden Fällen sind die Offensivvarianten ein ganzes Stück billiger als ihre Gegenstücke.

Natürlich verursachen alle Arten von Atomwaffen auch radioaktive Strahlung. Taktische weniger (und zuerst auch nur begrenzt auf die Region, in der sie eingesetzt wurden), strategische mehr (und direkt in die Atmosphäre). Der lokale Strahlungsgrad beeinflusst auch das Leben in der Region. Am Ende jeder Runde wird ein Teil dieser Strahlung in die Atmosphäre des Planeten verlagert. Und dieser globale Strahlungsgrad beeinflusst die Lebensumstände auf der ganzen Erde.

Soviel zum militärischen Aspekt. Aber wo kommen die Soldaten her? Wer konstruiert eigentlich all diese Raketen? Die Bevölkerung der Regionen. Jede Region hat eine spezifische, aber nicht statische Anzahl an Einwohnern. Mehr Leute können dabei natürlich mehr produzieren pro Runde.

Aber diese Menschen brauchen natürlich auch Nahrung zum Überleben. Um dieses Bedürfnis zufrieden zu stellen, produziert jede Region Nahrung. Manche mehr, manche weniger. Und durch Investitionen kann man auch versuchen, dieses zu verbessern. Außerdem wird in den Ländern noch Öl gefördert. Öl wird für Armeebewegungen, Raketeneinsätze usw. benötigt. Sowohl Nahrung als auch Öl kann auch auf dem Weltmarkt gehandelt werden.

Ich könnte jetzt noch ein paar Stunden weiterschreiben, und trotzdem hätte ich immer noch nur ein Fragment der gesamten Spieldynamik beschrieben. Alles ist perfekt ausbalanciert, eine Handlung verursacht die andere – alles ist ineinander verwoben. Und das macht dieses Spiel so großartig: Es ist ein perfekt durchdachtes System, das eine ganze Menge verschiedener Aspekte mit einbezieht, ohne dass irgendetwas „draufgepropft“ oder sinnlos wirkt! Man braucht schon eine vernünftige Gesamtstrategie, um zu gewinnen. Kleine Siege auf dem Schlachtfeld erweisen sich all zu oft als Phyrrussiege, wenn man nicht den Rest der Welt und den Einfluss anderer Komponenten mit einbezogen hat.

Wem das Brettspiel Supremacy ein Begriff ist, den wird hier oftmals das Gefühl eines Dejà Vu beschleichen. Aber Proliferation bietet sogar noch mehr als das ohnehin schon komplexe Brettspiel! Es nutzt die Vorteile des Computers in intelligenter Art und Weise, um die Partie weniger statisch zu machen. Nichts bleibt länger als ein-zwei Züge gleich! Panta rei – das ist die perfekte Beschreibung davon, was in Proliferation vor sich geht.

Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt ist, dass das Spiel Freeware ist. Zuerst war es Shareware, die Testversion war auf drei Spieler beschränkt und es gab keine Speicherfunktion. Aber später entschied sich Silicon Commander Games, es als Public Domain herauszugeben. Das ist ein vorbildhaftes Verhalten, ich wünschte, mehr Firmen würden das so tun. Um genau zu sein, haben Silicon Commander all ihre älteren Spiele frei veröffentlicht, und sie haben auch noch ein paar wirklich interessante neue Sharewaretitel in der Entwicklung – also schaut mal auf ihrer Homepage vorbei. Eine meiner Lieblingsfirmen. Fast alle ihrer Spiele sind von sehr hoher Qualität! Proliferation ist aber ihr Meisterwerk. Und wenn die KI nur ein bisschen besser wäre, hätten wir hier einen sicheren Kandidaten für die perfekte Wertung gehabt.

Screenshots

PC (Windows)

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