Die Versuchung

Andere Titel:
Tender Loving Care / TLC
Firma:
Aftermath
Jahr:
1998
System:
PC (Windows)
Genre:
Denkspiel
Tags:
Krimi / Adult / FMV
Sprachen:
Englisch / Deutsch
Mittlere Wertung:
5/5

Meinung damals

Eigentlich würde ich Die Versuchung nicht als Spiel bezeichnen, sondern als famose, prickelnd erotische Unterhaltung für Erwachsene […] Die Storyline ist spannend und die Psychotests geben dem Produkt die richtige Würze. Ich konnte mich jedenfalls beinahe nicht mehr von meinem Monitor trennen, bis ich endlich meine persönliche Endsequenz gesehen habe. […] Letztlich hat es mir enorm viel Spaß gemacht, quasi als Voyeur diesem Psycho-Thriller beizuwohnen.

Christian Peller, Power Play 6/98 

Ich wurde beim Test von TLC angenehm an alte 64er-Tage erinnert, namentlich an das Spiel Alter Ego. Dabei ging es darum, ein komplettes Menschenleben von der Wiege bis zum Schaukelstuhl zu erleben. Abhängig von den eigenen Entscheidungen in Schlüsselsituationen änderte sich der Lebenslauf. Ähnlich wirken sich Ihre Antworten auch hier auf die Handlung aus. […] Zwar dürfen Sie sich nie direkt mit den Hauptdarstellern unterhalten, doch die indirekte Manipulation hat einen mindestens ebensogroßen Reiz.

Roland Austinat, PC Player 6/98 

Bericht von Mr Creosote (20.05.2023) – PC (Windows)

Mit fortschreitendem Alter werde ich immer sentimentaler. Ich versuche mir einzureden, das sei normal. Doch muss damit auch zwangsweise einhergehen, dass ich immer leichter emotional manipulierbarer durch fiktive Medien werde? Ich durchschaue die billigen Tricks, die die Autoren anwenden. Und trotzdem kann ich mich dem immer weniger erwehren. Vor 25 Jahren hätte ich Die Versuchung anhand seinen schmalzigen Seifenopernthemen und dem Mangel an Interaktivität weggelacht. Als ich es jedoch jetzt gespielt habe, hat es mich viel stärker berührt, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. So sehr, dass ich mehrfach Verschnaufpausen einlegen, mich mit anderen Dingen ablenken musste, weil es einfach zu intensiv wurde.

Zu seiner Zeit wurde das Spiel tatsächlich bestenfalls mittelmäßig aufgenommen. Warum, ist glasklar. Die Standards, die in den 1990er Jahren von professionellen Rezensenten angelegt wurden, richteten sich an Profispieler. Das Augenmerk lag auf Spielmechanik und nach klassischem Schubladendenken ist Die Versuchung keinesfalls stark.

Gefunden
Gefunden

Den Großteil der Spielzeit streift man durch ein Haus. Immerhin kann man sich frei bewegen, aber es gibt viel zu wenig zu entdecken. Die Suche nach Hotspots, mit denen man interagieren kann, ist eher lästige Pflicht als interessante Aufgabe. Was zwei Gründe hat. Erstens sind die Hotspots dünn gesät und der Suchraum ist immer der gleiche. Alles wieder und wieder mit der Maus nach Änderungen abzufahren, ist nicht sonderlich spannend. Zweitens beschränken sich die Interaktionen auf das Anschauen und Durchlesen (z.B. von Tagebüchern oder Computerbildschirmen). Eine nicht unbedingt elegante Art, den Spieler mit Informationen zu füttern. Den Designern ist es nicht gelungen, die Umgebung für sich selbst sprechen zu lassen, was beispielsweise durch herumliegende Dinge, einen sich verändernden Gesamteindruck der Räumlichkeiten usw. hätte gelingen können. Immerhin ist diesbezüglich das Sounddesign gelungen. Je nach Spielzustand werden unterschiedliche Musikstücke eingespielt, abgemischt mit flüsternden Stimmen oder anderen Soundeffekten, die die Stimmung effektiv widerspiegeln.

Die restliche „Spiel“-Zeit teilt sich in zwei Phasen. Erstens schaut man nicht-interaktiven Filmsequenzen zu. Die Geißel aller Spielrezensenten der 1990er Jahre, denn… wo ist da bitte das Spiel? Zweitens beantwortet man Multiple-Choice-Fragen, die meist nicht mal in direktem Zusammenhang mit dem Plot stehen. Es ist also nicht einmal eine japanische „Visual Novel“, wo die seltenen A-B-C-Entscheidungen einen immerhin auf einen anderen Zweig der Geschichte schicken.

Guten Tag, Herr Freud!
Guten Tag, Herr Freud!

Vor dem Bildschirm schaut man also größtenteils einfach zu. Ist man damit überhaupt ein Spieler? Im klassischen Sinne eines Adventures bietet Die Versuchung wirklich so gut wie überhaupt keine Interaktivität. Eine Wirkmächtigkeit existiert in diesem Sinne nicht. Der Spieler übernimmt keine Rolle der handelnden Charaktere. Stattdessen ist man eine Art körperloser Beobachter. Es überrascht nicht, dass das Spiel ein kritischer wie kommerzieller Misserfolg wurde. Zum Veröffentlichungszeitpunkt war der Zenit der kurzen Welle „interaktiver Filme“ ohnehin bereits überschritten.

Daran änderte auch die relativ groß angelegte Werbekampagne nichts. Die Köpfe hinter The 7th Guest vermarkteten es als „erotisches Liebes- und Lustdreiecksbeziehungsdrama“. Darauf zahlte auch der blödsinnige deutsche Titel ein. Doch damit reihte man das Spiel in genau diese kitschigen [?FMV]-Seifenopern der Machart der Voyeur-Spiele ein, die gerade wirklich niemand mehr wollte.

Und trotzdem bereitete es mir heutzutage jede Menge Freude. Nicht nur aufgrund der Produktionswerte. Die Helikopteraufnahme der Fahrt eines Autos durch die Landschaft, begleitet von melancholischer Musik, war in den 1990er Jahren aber auf jeden Fall ein Statement. Das Spiel liefert diesbezüglich auch später ab. Man hat hier in echten Kulissen gefilmt, anstatt alle vor Bluescreen herumkaspern zu lassen. Licht wird gut abgestimmt und bewusst eingesetzt usw.

Es ist eines dieser Spiele
Es ist eines dieser Spiele

Nein, der eigentliche Grund ist emotionale Resonanz. Oberflächlich wird der erwartbare billige Nervenkitzel geboten. Jody, die fünfjährige Tochter Michaels und Allisons, ist vor sechs Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem befindet sich Allison in einem wahnhaften Zustand, sie glaubt Jody noch am Leben. Michael kümmert sich um Allison, aber es wird zu viel. Ihr Psychiater, Dr. Turner, regt an, eine Therapeutin direkt ins Haus zu holen, die sich als Krankenschwester für die „verletzte“ Jody ausgeben soll. Wodurch also „Sexbombe“ Kathryn auf den Plan tritt.

In der Eröffnungsszene fährt Turner, gespielt von keinem anderen als dem großen John Hurt, vor einem abgelegenen Landhaus vor. In einem roten Sportwagen, mit schrecklicher Midlife-Crisis-Frisur und besonders schleimiger Attitüde. Es werden also weiterhin alle durch die Werbung geweckten Erwartungen erfüllt. Der Spieler wähnt sich in Sicherheit, in wohliger Distanz zu dem, was da wohl kommen wird.

Und auch weiter werden die niederen Instinkte bedient. Gleich im Anschluss öffnet Kathryn ihre Bluse, bevor sie Michael aus dem Raum bittet. Nur zehn Minuten später stellt sie Sharon Stones Verhörszene aus Basic Instinct  nach. Nicht das letzte explizite Filmzitat.

Nett von Michael, all das für uns aufzuschreiben
Nett von Michael, all das für uns aufzuschreiben

Subtil ist da nichts, man bekommt Handlung wie Emotionen direkt ins Gesicht geworfen. Doch darunter brodelt etwas, was smart und intelligent ist. Es ist teilweise plump, aber behandelt trotzdem hochschwierige Themen.

Denn darin steckt tatsächlich Platons Höhlengleichnis . Der Machtkampf zwischen Michael und Kathryn um die Definitionshoheit über Allisons Realitätswahrnehmung. Das ethische Dilemma, wie weit man gehen darf, jemanden aus seinem ignoranten Zustand zu schütteln. Ob man das überhaupt tun sollte. Der Schmerz der eigenen Schuld, ob echt oder eingebildet, und wie man damit umgehen kann. Verantwortlichkeit für andere und wie weit sie geht. Schiefe Beziehungen, wie solche funktionieren können und ob sie manchmal vielleicht sogar gute Seiten haben können. Ein tiefsitzender Minderwertigkeitskomplex, der zur Überkompensation, es der Welt zeigen zu wollen, führt. Unterdrückte Homosexualität könnte auch angedeutet werden. Wie überhaupt andere Facetten der Maskulinität in der heutigen Gesellschaft; das Unvermögen, Schwäche zu zeigen; der Druck, immer stark, beschützend und fürsorglich zu handeln.

Und schließlich, bis heute eines der größten gesellschaftlichen Tabus überhaupt: ein Elternteil, das unfähig ist, sein eigenes Kind zu lieben. Statt Die Hand an der Wiege  zu schauen, watet man plötzlich knietief im Babadook . Die sichere emotionale Distanz zerschellt, in einem Maße, das vielleicht nicht einmal mehr gesund ist.

Was für ein Psychiater macht denn sowas?
Was für ein Psychiater macht denn sowas?

Selbst das Spielprinzip ergibt vor diesem Hintergrund ein klein wenig Sinn. So mangelbehaftet es auf den ersten Blick sein mag, gibt die neutrale Perspektive, also das Erleben des Plots ohne explizite Zuordnung zu einem Charakter, die Gelegenheit, verschiedene Facetten zu erfahren. Die schriftliche Form der Tagebücher ist äußerst ungelenk, aber immerhin erzählen sie von den sich verändernden Gemütszuständen der verschiedenen Charaktere. Michaels Anrufe sagen viel über ihn aus. Kathryn erhält seltsame Droh-E-Mails. Anderswo wird angedeutet, auch Turner könnte nicht ganz der selbstlose Engel sein. Doch es bleibt bei den Beobachtungen, Interpretationen werden einem zum Glück nicht explizit eingetrichtert. Genaues Hinschauen wird belohnt, aber beiläufigeres Spielen ebenfalls erlaubt. Der Aufwand ist manchmal zu hoch, aber immerhin wird er belohnt.

Selbst die seltsam abgehobenen Fragenkataloge haben ihren Wert. Sie spiegeln die Vulgär-Freudianischen Themen wider und fragen nach Assoziationen mit Bildern. Oder aber, Turner befragt einen direkt nach möglichen Interpretationen des gerade Gesehenen. Kann man Kathryn trauen? Wer saß wohl am Steuer des Autos am Tag des Unfalls?

Die Sache mit diesen Tests und Fragen ist, dass obwohl ihr Einfluss auf die Geschichte nicht immer direkt erkennbar ist, ein solcher trotzdem existiert. Wenn der Spieler gefragt wird, ob Michael den Plan unterstützen soll, wird Michael in der folgenden Szene das tun, was das Standardskript diesbezüglich vorsieht. Egal, was der Spieler gewählt hat. Schließlich folgt die Perspektive des Spielers grob der Michaels, aber man ist nicht Michael. Ein Großteil der Szenen bleibt unbenommen der Entscheidungen des Spielers immer gleich. Ebenso kann man, nachdem man gefragt wurde, ob Kathryn wohl auf Michael steht, eben diese Antwort gleich darauf in ihrem Tagebuch nachlesen.

Das ist einfach
Das ist einfach

Es ändert sich nur zweierlei. Erstens darf man verbrähmt durch eine Frage einstellen, wie viel nackte Haut man denn sehen möchte, wodurch entsprechende Szenen kürzer oder länger ausfallen, ein Vorhang früher oder später geschlossen wird usw. Zweitens ändert sich das Ende. Das sozusagen die Summe aller Entscheidungen ist, anstatt an Knotenpunkten auf den Ast A, B oder C geleitet worden zu sein. Der Effekt einzelner Antworten ist dabei meist ziemlich intransparent. Somit wird einem eine spielerische Optimierung auf ein bestimmtes Ende hin maximal schwierig gemacht.

Aus all diesen Gründen ist es wohl nicht so gedacht, dass man das Spiel mehrfach durchspielt. Zur Erinnerung: Der Großteil der Szenen ist jedes Mal gleich. Gezieltes Spielen auf ein Ende hin ist kaum möglich. Es kommuniziert sozusagen: Akzeptiert „eure“ Version der Geschichte. Also diejenige, die beim ersten Durchlauf rausgekommen ist. Ohne das Gefühl, doch noch ein bisschen mehr sehen zu müssen, um sich kritisch damit auseinandersetzen zu können, hätte ich es wahrscheinlich kein zweites Mal angestellt. Eine größere Flexibilität in die gesamte Geschichte einzubauen, hätte sehr, sehr interessant werden können. Doch damit wären die Auswirkungen der Entscheidungen wahrscheinlich direkt sichtbarer geworden, was wiederum das Ausrufungszeichen doch deutlich verkleinert hätte.

Das Spiel versucht also sozusagen das große Kunststück aller Erzähltechnik. Soll heißen, es möchte die Szenen, die nach außen hin immer gleich sind, mit einer Vieldeutigkeit aufladen, die rückblickend nach Kenntnis des jeweiligen Endes neu interpretiert werden kann. Die Balance ist diesbezüglich ziemlich gut gelungen. Gerade wenn die Spieler denken mögen zu wissen, wer nun der Bösewicht der Geschichte ist, auf welche Seite man sich stellen sollte, dann finden sie doch wieder einen Tagebucheintrag oder eine Aufnahme, die ein anderes Licht darauf wirft. Ihnen also wieder den Teppich unter den Füßen wegzieht. Die Erzählung bleibt also offen, ohne dabei schwach zu werden.

Wer wird obsiegen? Falls es sowas überhaupt gibt
Wer wird obsiegen? Falls es sowas überhaupt gibt

Reicht das, die Spieler bei der Stange zu halten? Vielleicht nicht in der breiten Masse. Doch für mich war es eine höchst immersive Erfahrung trotz minimaler klassischer Interaktivität. Die Versuchung ist höchst manipulativ, aber auch höchst effektiv. Es macht es sich selbst nicht einfach. Es kommt ohne den großen Psycho -Moment aus, in dem am Ende alles erklärt wird. Wer also letztendlich wirklich den Hund getötet hat. Von wem diese Emails stammen. Was geschehen wäre, hätte Kathryn ihren Plan zu Ende bringen können. Es erlaubt eine Feld-Wald-und-Wiesen-Deutung der Marke: Michael hatte eine Affäre mit einer Kollegin und als seine Frau davon erfuhr, inszenierte er einen Unfall, mit dem er hoffte, sie zu töten. Das gelang nicht wie geplant, aber nun hält er sie absichtlich in ihrem verwirrten Zustand, so dass sie sich nicht erinnert. Dieser Status Quo wird von Kathryns Ankunft bedroht. So hätte ich es vor 25 Jahren zusammengefasst, mit den Schultern gezuckt und ein paar zynische Sprüche zu Papier gebracht.

Jetzt verspüre ich nägelkauende Spannung jedes Mal, wenn Michael gegen Ende wie Jack Nicholson in Shining  durch die Tür bricht. Wäre dies ein Fernsehfilm im Spätabendprogramm, hätte ich ihn angeschaut? Ja. Hat die interaktive Präsentation den Unterhaltungsfaktor erhöht? Da gibt es Licht und Schatten, aber Alles in Allem ist die Antwort trotzdem „ja“!

Es mag ein Zufallsprodukt gewesen sein, vielleicht standen die Sterne einfach richtig. Die Autoren und Designer von Aftermath versuchten es danach nochmal. Point of View präsentierte sich allerdings als viel billigere Produktion. Schauspielerei, Inszenierung und technische Umsetzung erinnerten eher an Deutschlands lustigste Heimvideos. Doch auch wenn Aftermath scheiterte, würden heute allseits gefeierte Spiele wie Telling Lies existieren, hätten nicht andere es zuvor zumindest versucht?

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